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Titel
A Long Goodbye. The Soviet Withdrawal from Afghanistan


Autor(en)
Kalinovsky, Artemy
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
£ 20.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Chiari, Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam

In der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember 1979 landeten Elitesoldaten der sowjetischen 103. Luftlandedivision in Kabul und im 80 Kilometer nördlich gelegenen Bagram. Einen Tag später liquidierten Spezialkräfte im Kabuler Königspalast den afghanischen Chefkommunisten, Präsidenten und Führer der regierenden Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), Afisullah Amin. Amin, Präsident seit September 1979, hatte sich in Moskau den Ruf zweifelhafter Loyalität und mangelnder Zuverlässigkeit erworben. Ähnlich wie nach dem sowjetischen Einmarsch in die ČSSR 1968 inthronisierten die Sowjets in Afghanistan ein neues, Moskau genehmes Regime. Als Amins Nachfolger wählten sie Babrak Karmal, der wie jener Gründungsmitglied der 1965 ins Leben gerufenen DVPA war. Die sowjetische Intervention bildete den Auftakt für einen neun Jahre währenden „Heiligen Krieg“ (Dschihad), den die Mudschaheddin mit der Unterstützung aller ethnischer Gruppen und Stämme gegen die sowjetischen Truppen und die Armee der kommunistischen Regierung führten. Bis zu 15.000 sowjetische Soldaten und mehr als 1,2 Millionen Afghanen verloren ihr Leben. Während Regierung und Besatzungsmacht die Städte kontrollierten, herrschten in der afghanischen Provinz Zerstörung, Elend und Anarchie.

Die nach dem Amtsantritt von Generalsekretär Michail Gorbatschow im März 1985 durch die Perestroika veränderte geopolitische Lage und das internationale Genfer Afghanistan-Abkommen von 1988 schufen die Voraussetzungen für den Abzug der sowjetischen Truppen, der bis zum 14. April 1989 abgeschlossen wurde. Während der Afghanistan-Krieg eine Entwicklung förderte, an deren Ende sich die UdSSR am 26. Dezember 1991 auflöste, stürzte der seit 1986 im Amt befindliche afghanische Regierungschef Mohammed Nadschibullah erst 1992. Sein Land zerfiel in Einflussgebiete der Warlords und versank im Bürgerkrieg, der bis zur Machtergreifung der radikalislamischen Taliban andauerte.

Artemy M. Kalinovsky verfolgt in seiner glänzend geschriebenen Studie auf Basis sowjetischer Akten den Entscheidungsprozess der sowjetischen Führung auf dem langen Weg bis zum Rückzug. Der altersschwache Leonid Breschnew hatte 1979 trotz der ungeschminkten Bewertung seiner Geheimdienste, der Einsatz von Bodentruppen werde in Afghanistan – wo für die Errichtung eines kommunistischen Systems alle Voraussetzungen fehlten – einen flächendeckenden „Partisanenkrieg“ auslösen, die Intervention im Politbüro der KPdSU durchgesetzt. Schon kurze Zeit nach dem Einmarsch begannen jedoch in Moskau Diskussionen darüber, wie man durch die Modernisierung der unterentwickelten afghanischen Infrastruktur und Wirtschaft die Voraussetzungen für einen stabilen Zentralstaat und damit den Rückzug der eigenen Truppen schaffen könnte. Aber über viele Jahre mussten sowjetische Truppen mit Waffengewalt die letztlich erfolglosen Versuche absichern, im Lande einen Prozess der nationalen Versöhnung in Gang zu bringen und die hoffnungslos zerstrittene, desolate DVPA zu einen, während die UdSSR ihr diplomatisches Gewicht in die Waagschale warf, um der Kabuler Regierung wenigstens zu einem Minimum an internationaler Anerkennung zu verhelfen.

Gorbatschow übernahm den Afghanistan-Krieg 1985 bereits als eine Bürde, die die Sowjetunion sowohl mit Blick auf den Westen als auch hinsichtlich der umworbenen Staaten der „Dritten Welt“ Ansehen und Kraft kostete. Innerhalb kurzer Zeit machte sich in Moskau einerseits Ernüchterung breit, was die Erfolgsaussichten des sozialistischen Nation-Building am Hindukusch anging. Gleichzeitig verbesserte sich ab 1987 das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten deutlich. Der steigende Einfluss reformorientierter Kräfte im Politbüro korrigierte allmählich bis dato für unverhandelbar geglaubte Prinzipien sowjetischer Außenpolitik, an denen sich Breschnew, Andropow und anfangs auch noch Gorbatschow orientiert hatten. Der Gegensatz zu den USA und die Angst vor einem strategischen Macht- und Gesichtsverlust verloren zusehends ihren handlungsleitenden Charakter. Kalinovsky beschreibt, wie zudem die allzu optimistische und parteihörige Berichterstattung aus Afghanistan zunehmend realistischeren Einschätzungen Platz machte, denen sich die sowjetische Führung auf Dauer nicht verschließen konnte.

Unter diesen Rahmenbedingungen wurde der Krieg für Gorbatschow einerseits zu einem Handicap bei der Erreichung seiner außenpolitischen Ziele: Glasnost und Perestroika gaben jenen Stimmen in der Sowjetunion Auftrieb, die kritisch nach dem wahren Charakter des Afghanistan-Einsatzes, seinem Wert für die UdSSR, seinen Erfolgsaussichten und zunehmend auch nach den sowjetischen und afghanischen Opfern fragten. Andererseits hätten seine konservativen Gegner innerhalb der KPdSU Gorbatschow einen zu frühen Abzug aus Afghanistan und den absehbaren Zusammenbruch des Nadschibullah-Regimes nicht verziehen. In dieser Zwangslage verhandelte die sowjetische Führung mit den USA über eine Einstellung der amerikanischen Militärhilfe an die Mudschaheddin und begann eine Reihe diplomatischer Initiativen, die schließlich den gesichtswahrenden Rückzug der Truppen ermöglichten. Gorbatschow selbst, so eine Kernthese Kalinovskys, habe in der Afghanistan-Frage Führungsqualitäten vermissen und seine Berater gewähren lassen, anstatt widersprüchliche Ansichten über den richtigen Kurs zusammenzuführen und zu einer einheitlichen Strategie zu verbinden. Letztlich fand die sowjetische Führung bis zum Rückzug ihrer Truppen keinen echten Zugang zu den Vorgängen in Afghanistan. Bei der Suche nach den richtigen Ansprechpartnern wurde sie selbst zum Spielball innerafghanischer Machtkämpfe, ohne diese zu durchschauen oder Zerrissenheit und Krieg wirklich etwas entgegensetzen zu können.

Während Kalinovsky die vielfältigen, sich überlagernden Diskurse innerhalb der sowjetischen Führung konzise wiedergibt, bleiben sowohl die Vorgänge in Afghanistan als auch die Rolle zentraler sowjetischer Akteure wie Geheimdienste oder Armee undeutlich. Gleiches gilt auch für die gesellschaftliche Eigendynamik, die Glasnost und Perestroika in der UdSSR entfalteten, und die Michail Gorbatschow zunehmend zum Getriebenen der von ihm selbst angestoßenen Liberalisierungs- und Modernisierungspolitik machte. Kalinovskys Studie zeigt dafür, wie schwierig es ist, einmal getroffene Entscheidungen für Interventionen mit zweifelhaften Erfolgsaussichten wieder rückgängig zu machen. Dies macht das anzuzeigende Buch nicht zuletzt mit Blick auf den laufenden Afghanistan-Einsatz der NATO zu einer beklemmenden Lektüre.

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